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40 Jahre Martinsgemeinde Grünbühl
von Dr. Albert Sting: Vortrag am 3.6.1995 in Grünbühl

Wie vieles in Ludwigsburg, so hat auch diese Siedlung, heute Stadtteil, ihre Anfänge in der militärischen Geschichte der Garnisionsstadt.
Der Grund, auf dem wir stehen, war seit 1830 der mehrfach vergrößerte Exerzierplatz der Ludwigsburger Garnisonen. Am Anfang war er 17 ha groß; mehr als 100 Jahre später (1945) hatte er 463 ha Größe - das mehr als 27-fache, zum größten Teil auf Kornwestheimer und Aldinger Markung liegend. Dieses nasse Gelände -zum Teil offene Wasserfläche und Ried - nahm teil an der speziellen Militärgeschichte unserer Stadt: Alter See, Frauenried, Grünäcker, Stauweiher.
Unter dem Namen "Großer See" war er für die Ludwigsburger ein fester Begriff. Wollte man weit aus der Stadt spazieren gehen, begab man sich auf dieses Gelände, das wahrlich freien Auslauf bot und mit seinen Stellungen und Schützengräben hochinteressant war. Eine unvergessene Erinnerung mehr war ein Kinderkirchausflug 1930, von der damals noch Garnisonskirche genannten Friedenskirche unternommen, an dem ein paar hundert Kinder beteiligt waren. Und an die Schafherden, die man auf dem Exe immer antraf.
1935 wurde das Miltärbarackenlager (Lager "Alter See"), 1938 das Pferdelazarett erbaut. Ab 1939 fand das Barackenlager als Kriegsgefangenenlager Verwendung. Die ersten Gefangenen waren Polen, dann Franzosen und später Russen. Im Mai 1945 wurde es Internierungslager für Nazi-Funktionäre: Internment Camp 71.
Das Gelände des heutigen Grünbühls war anfangs dreigeteilt: Das alte Barackenlager, das dem Fiskus gehörte, unter der Verwaltung der Forstdirektion, war Ludwigsburger Gebiet. Die Flächen westlich davon lagen auf Kornwestheimer und die südlich davon auf Aldinger Markung.
Nach 1947 bekamen die ersten Zivilisten hier Wohnung zugewiesen. Noch waren die Baracken von Stacheldraht umgeben. Die Menschen, meist aus Osteuropa, waren anfangs überwiegend katholischer Konfession.
So steht am Beginn kirchlicher Betreuung eine Barackenkirche, die von den katholischen Christen eingerichtet worden war. Als mit der Zeit evangelische Menschen hier Wohnung fanden, wurde diese Kirche "ökumenisch" benutzt. Die Notkirche stand offenbar ursprünglich etwa auf dem Platz, wo sich heute unser Gemeindehaus befindet. Sie mußte später dem Baufortschritt weichen und wurde im Frauenried wie der aufgerichtet.
Die kleine evangelische Martinsgemeinde wurde betreut von den Vikaren der Karlshöhe und von Diakonenschülern. Nicht zuletzt war da häufig der Vikar Schlatter tätig, heute Dekan im Ruhestand, der in guter Erinnerung ist, weil er immer mit dem Motorrad unterwegs war. Mit der Zeit zogen auch deutsche Familien und Heimatvertriebene aus Osteuropa zu, später Flüchtlinge aus der DDR und dann auch andere Personen. Die Umgangssprache ist deutsch, eine Art Schriftdeutsch, das "Grünbühler Deutsch" bezeichnet wird. Die Einwohnerschaft war und ist wohl noch zu einem Drittel evangelisch (einschließlich der lutherisch-lettischen Gruppe).
1954 begannen die ersten Überlegungen, ein Gemeindezentrum zu bauen. Der Architekt Ruff wurde mit der Planung und Ausführung beauftragt und erstellte einen ersten Bauabschnitt. In diesem Gemeindehaus waren Kindergarten und Gemeinderaum für Gottesdienste, z.T. in den selben Räumen, untergebracht, außerdem Wohnung für Pfarrer und Kindergärtnerin. Die Kirche sollte demnächst folgen, der Platz war vorgesehen.
Am 31.Juli 1955 wurde das Gemeindehaus eingeweiht. Es war ein großes Fest. Der Architekt übergab den Schlüssel an Pfarrer Rieker. Der Dekan und der Prälat waren zugegen. Prälat Schlatter predigte über Eph. 5,9: "Wandelt wie alle Kinder des Lichts - die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit". Sparsam war die Ausstattung: Klappstühle und Harmonium. Der Raum war niedrig, und oft wurde die Luft knapp.
Am 1.April 1956 wurde Grünbühl zur Stadt Ludwigsburg eingemeindet. Die Zeit ging ins Land, die Gemeinde freute sich des Hauses bei allen noch offenen Wünschen. 1965 schreibt Pfarrer Müller: "Unser Gemeindehaus ist uns in den Jahren zur Kirche geworden. Wir freuen uns seiner einfachen Schönheit." Und: "Erst wenn einmal Sonntag für Sonntag Gemeindeglieder stehen müssen, können wir uns mit gutem Gewissen für eine neue Kirche einsetzen."

1971 wurden gepolsterte Stühle angeschafft und ein elektronisches Orgelpositiv mit 15 Registern und 25 Baßpedalen für 7500,- DM. "Martinsgemeindehaus" wird das Haus genannt und die Gemeinde "Martinsgemeinde". Genau konnte ich nicht erheben, ab wann der Name verwendet wurde. Martin: Erinnerung an den Reformator Martin Luther, zumal es auch ein Lutherzimmer gab, oder die Erinnerung an den Hlg. Martin, der den Mantel teilte. Pfarrer Rieker war der erste Pfarrer. Bei der Einweihung 1955 hieß es noch "Gemeindehaus Grünbühl". Die erste amtliche Nennung findet sich im Schreiben des Oberkirchenrates, dem Grußwort des Landesbischofs zur Bildung der Martins-Kirchengemeinde Grünbühl, am 18.Aug.1958 von Prälat Lempp. Damit wurde die Gemeinde als Ludwigburger Teilkirchengemeinde selbständig und zur ständigen Pfarrverweserei bestellt. So durfte sich jetzt ein Kirchengemeinderat bilden: 4 gewählte Vertreter, hinzu noch 3 Beisitzer . Eine Glocke wurde im Sommer 1961 in einfachem Stahlgerüst montiert. Das Gemeindehaus war als Provisorium geplant und hatte demzufolge entsprechend langen Bestand, nämlich 36 Jahre.
Die Gemeinde wuchs und die Zahl der Kreise und Veranstaltungen nahmen zu. Der Raummangel war permanent vorhanden, und es ist mit Bewunderung zu verzeichnen, daß die Konflikte von der Gemeinde beherrscht werden konnten (Altenclub, Jungschar, Kirchen gemeinderat, Jugendclub), zumal das Zimmer im Untergeschoß wegen Feuchtigkeit für Gemeindeveranstaltungen nicht mehr verwendet werden konnte. Die Kindergartenarbeit, der ein breiter Raum in der Arbeit und im Gebäude zugeordnet war, hat manche sich ändernde Bedeutung erfahren. Anfangs schien sich die Kinderzahl erheblich zu vermehren, so daß an beträchtliche Erweiterungen gedacht werden mußte. Die Diskussion hat sich lange, nämlich 20 Jahre, hingezogen, und während dieser Zeit hat die Kinderzahl so weit nachgelassen, daß eine Vergrößerung nicht mehr dringend war. Es war ein echter Ideen-Marathon: 1969 wurde der Plan, eine Kirche auf der Kornwestheimer Höhe zu bauen, abgelehnt. Am 12.Juli 1971 faßte der Kirchengemeinderat den Beschluß, die Kindergartenarbeit nicht mehr in den Mehrzweckräumen zu führen. Die Gruppenräume wurden ja als Gemeinschaftsraum, auch als Kirchengemeinderats-Sitzungszimmer, verwendet, und zumindest über das Wochenende mußten sie völlig umgesteltt werden.
Am 14. Juni 1974 wurde ein Raumprogramm für einen Kindergarten in Fertigbauweise erstellt. Am 13.Juni 1975 diskutierte man die Frage , ob nicht eine Kindergarten-Abteilung in den Räumen der Katholischen Kirche eingerichtet werden könnte. Es fanden hierzu Gespräche statt. Der Plan wird nicht genehmigt und verworfen. 1976 gab es Überlegungen, ob eine Kindergarten-Abteilung in die freiwerdenden Vorschulräume im Erdgeschoß der Eichendorffschule verlegt werden könnte. Man kam mit den Erweiterungsplänen nicht weiter. Zudem hatte die Diskussion um die Vorschule begonnen.
1976 trat eine kleine Katastrophe ein. Weil kein rasch realisierbarer Plan vorgelegt werden konnte, der die Zustimmung der Gremien, vor allem des Oberkirchenrates, fand, wurden die Baumaßnahmen "Kindergarten Grünbühl" in der Baudringlichkeitsliste der Gesamtkirchengemeinde, wo sie bis dahin auf Platz 1 rangierte, auf Platz 3 hinter die Paul-Gerhardt-Gemeinde und Pflugfelden gesetzt. Das bedeutete praktisch das Aus auf Jahre.
Ab 1982 wird der Plan aktenkundig, das Gemeindehaus nur geringfügig umzubauen und einen Sakral- und Gemeinderaum neu zu errichten. 1983 beschloß der Kirchengemeinderat den Neubau, 1985 wurde der Kirchturm auf einen späteren Bauabschnitt zurückgestellt.
Am 30.12.1985 gab es erstes grünes Licht. Der Bauausschuß hatte sich mit den Plänen befaßt und sie grundsätzlich für gut geheißen. Es sollte eine Baugrunduntersuchung eingeleitet werden. Am 2.März 1987 fand dann ein Gespräch mit dem Oberkirchenrat und den Architekten statt. Der dabei vorgelegte Plan wurde als zu weitgehend bezüglich des Raumprogramms und der möglichen Kostenüberschreitung eingestuft. Die Architekten Bullinger, Graff, Hoff und Wörz waren mit den Plänen befaßt. Mit den Jahren stabilisierte sich die Meinung,, das Martinsgemeinde-Raumproblemes sei durch den Bau einer Kirche in Gestalt eines multifunktionalen Gebäudes zu lösen.
Erster Spatenstich war am 10. April 1990, Richtfest am 28.September 1990. An Pfingsten 1991 wurde die Martinskirche feierlich eingeweiht. Sie war so wohl gelungen, daß ein Gemeindekind "vom Wohnzimmer des lieben Gottes" sprach.
Es muß bei Kenntnis dieser Geschichte der Martinsgemeinde, ihren Vertreter und Vertreterinnen ein großes Wort der Anerkennung ausgesprochen werden für die Ausdauer, die Beweglichkeit ihrer planerischen Ideen und die konsequente Verfolgung der Pläne trotz mehrerer Wechsel der Pfarrer. Jeder folgende Pfarrer und jeder folgende Kirchengemeinderat und Kirchengemeinderätin hat diesen Kurs striktissime verfolgt. Und man kam zum Erfolg !
Wir kehren noch einmal zurück. Die Martinsgemeinde, die bis 1958 zur Friedenskirchengemeinde gehörte, wurde dann selbständige Kirchengemeinde. 1974 wurde sie von einer ständigen Pfarrverwesung zu einer ständigen Pfarrei erhoben. Pfarrverweser Thibaut wurde am 7.April 1974 als Pfarrer der Martinsgemeinde von Dekan Dr.Grau in sein Amt eingeführt. Die Königsberger Straße, auch GdF-Siedlung, oder Oßweiler Höhe, wurde zur Martinsgemeinde hinzugefügt. Der integrierende Prozeß für die 800 - 900 Menschen umfassende Gemeinde ging unaufhaltsam weiter. Es entstand tatsächlich Heimat für die Bewohner von Grünbühl. Neusiedler kamen zu den ersten Bewohnern hinzu. Neue Gemeindeglieder kamen aus Rußland, Ukraine und aus Rumänien.
Ganz langsam gestaltete die Gemeinde Tradition. Eine reiche und differenzierte Gemeinschaft prägt immer wieder neue Formen des Gemeinsamen, vom Altenclub bis zum Kindergarten. Schon 1973 zähle ich im Pfarramtsbuch 8 gewählte Kirchengemeinderätinnen und Kirchengemeinderäte, 2 hauptamtliche Mitarbeiter und 16 ehrenamtliche Mitarbeiter. Heute sind es 20 ehrenamtliche Mitarbeiter, 2 Erzieherinnen, 2 Teilzeitkräfte. Vor drei Jahren kam die Sonnenberg-Siedlung zu Grünbühl und damit etwa 400 Gemeindeglieder. 1300 Seelen zählt die Martinsgemeinde., was sich im Gottesdienstbesuch auswirkt. Für die Konfimation (dieses Jahr 23 Konfirmanden) ist die Kirche jetzt schon zu klein und man feiert in St.Elisabeth.
Der Kirchengemeinderat formuliert am 23.Februar 1985 folgende Sätze: "Die Martinsgemeinde ist von der Struktur her schwer mit anderen Teilkirchengemeinden in Ludwigsburg zu vergleichen. Über Generationen gewachsene Familienbande fehlen hier völlig. Grünbühl ist entstanden aus einem Barackenlager und war nach dem Krieg lange Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten. Es hat Jahre gedauert, bis die dort angesiedelten Menschen langsam so etwas wie ein Heimatgefühl entwickeln konnten. Dieser Integrationsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Wir sind fest überzeugt, daß unser neues Gemeindezentrum mit entsprechendem Begegnungsraum dazu beiträgt, die Integration zu fördern."
Wir wissen, daß diese Absicht durch die Martinsgemeinde intensiv weitergeführt wird. Daher nehme ich den Mut, einen Gedanken auf die Zukunft ans Ende zu stellen: Die Aufnahme besonderer Menschengruppen ist hier nicht beendet, eine neue Gruppe wird hinzukommen. Jenseit der Aldinger Straße, aber innerhalb der Martinsgemeinde, entsteht eine große Werkstatt für Behinderte. Die behinderten Beschäftigten und die Mitarbeiter, die dort ihrer täglichen Arbeit nachgehen werden, wohnen zwar woanders, aber werden hier zu sehen und zu begegnen sein. Da ich nun der Vorsitzende des Vereines bin, der diese Arbeit betreibt, schließe ich neben dem Dank und der Anerkennung für alles, was die Martinsgemeinde für Ludwigsburg und die hierhergekommenen Menschen schon geleistet hat, mit der Bitte: Wenden Sie Ihre Kraft und Erfahrung zur Integration, Ihre Zuversicht zur Schwestern- und Brüderschaft auch unseren Behinderten und ihren Begleitern zu, wenn sie kommen. Vergelt's Gott.